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Zeisig
Zur Person: Stephan Zeisig, geb. 1978, Intimkenner Frankreichs,  und ausgewiesener Pädagogik-Experte, schreibt während seines Aufenthalts in Lille  für ENTHUSIASTEN ONLINE seine Kolumne:

L'auberge française

20.-26.9.05 Vorwort: 

Ich bin in letzter Zeit viel kritisiert worden, für meinen Größenwahn, für meine ätzende Arroganz und für meine emotionale Kälte gegenüber meinen Mitmenschen, besonders gegenüber denen, die mir am meisten bedeuten, also den Menschen aus meinem Publikum. Was musste es sich nicht alles für Bemerkungen anhören? Beleidigungen, die sämtliche Mauern des guten Geschmacks einrissen, so dass man sie sich lieber nicht mehr in Erinnerung rufen möchte. Der ist doch abgehoben, der vergisst, wo er herkommt, der denkt, er sei Moses.
Verständlich, dass vor diesem Hintergrund mein Gang nach Frankreich landauf landab als Eingeständnis meines schlechten Gewissens interpretiert wird, als eine Flucht vor den Retourkutschen, mit denen ich es unweigerlich irgendwann zu tun bekommen würde. Schließlich lassen sich selbst meine Fans nicht unendlich lange auf der Nase rumtrampeln, auch nicht von mir. Eine Flucht in ein Land also, wo ich es mir noch nicht mit allen verscherzt habe. Doch offenbar kennt man mich, den Stephan, noch immer nicht: Ich bin kein Mann, der sich der Kritik, selbst wenn sie unberechtigt ist, nicht stellt, kein Kneifer. Vorwürfe machen mich nur noch stärker, an jeder gegen mich lancierten Attacke wachse ich, Verletzungen sind mein Lebenselixier.
Die wahren Motive meiner Emigration sind politischer Natur. Am Abend des 18. September stand für mich fest, Deutschland steuert gegen die Wand. Und ich werde es wohl nicht verhindern können, jedenfalls nicht vor Ort. Und in einem Land, wo sich die Sozialdemokraten zum Steigbügelhalter für die Faschisten von der Union machen (da kann Schröder noch so drauf bestehen, er werde der nächste Kanzler), in einem Land, das auf eine Diktatur zusteuert, möchte ich nicht leben, zumindest nicht die nächsten sieben Monate. Und welche Nation liegt als Zufluchtsort näher als die, aus deren Schoss Demokratie und Sozialismus erwuchsen, die im Grunde sogar für alle guten Ideen der Menschheitsgeschichte verantwortlich zeichnet, wenngleich sie sich am Ende dann oftmals dafür entschieden hat, die Umsetzung anderen Völkern zu überlassen. Hier in Frankreich bin ich noch Mensch, hier darf ich denken, also sein, hier sind die Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nur Lippenbekenntnis. Das sollen sich die Genossen von der Bürgerrechtspartei FDP mal hinter die Ohren schreiben. Hier werden Steuern erhöht, ohne dass gleich jemand lamentiert.
Obendrein habe ich noch sehr gute Erinnerungen an Frankreich und Frankreich an mich. Das ist Liebe auf Gegenseitigkeit. Hier hat man mein triumphales Erasmusjahr 2001-2002 in Pau keineswegs vergessen. Man ist mir immer noch dankbar, dass ich mich nach dem 11. September damals nicht wie alle anderen opportunistisch den USA zugewandt habe, sondern mit meiner Solidarität zur Grande Nation ein Zeichen gegen den amerikanischen Kulturimperalismus und die weltweite Vereinheitlichung und Einebnung aller Lebens-, Konsum- und Ausdrucksformen und eins für die exception culturelle gesetzt habe. Die mir entgegengebrachte Zustimmung war einhellig, nicht nur die der Franzosen, sondern auch die der anderen Erasmusstudenten, für die ich vom ersten Moment an so etwas wie ein Idol war, auch wenn ich diesen Begriff selber nie benutzen würde.
Mein Erasmustagebuch wurde zu ihrer Bibel. Und mein Abschied im Juli 2002 hinterließ eine riesige Lücke, die, wen wundert es, bis heute nicht gefüllt wurde. La République des Pyrénées titelte Le patron s’en va! L’Éclair fand die traurigen Worte: Stephan, tu vas nous manquer! Selbst France Sud-Ouest ließ sich eine Eloge auf mich nicht nehmen: La fin d’une ère!
Da bin ich also wieder, voilá! Natürlich sind die Erwartungen immens, schier überwältigend. Dennoch traue ich mir zu, sie nicht nur zu erfüllen, sondern sie noch zu toppen! Das werden sieben Monate bester Show, die man nie mehr vergisst, die Frankreich verändern werden. Sieben Monate, in denen ich jeden Russen in Berlin in den Schatten stellen werde. Die Vorzeichen stehen gut, Louise Attaque laufen seit langem mal wieder zu großer Form auf und Noir Désir werden endlich rehabilitiert, zwei meiner alten Weggenossen also, die viel mehr mit mir gemein haben, als man gemeinhin annimmt. Benoît Poelvoorde versucht sich erfolgreich im ernsten Genre. In diese Richtung werde auch ich mich orientieren. Schluss mit lustig, vorbei der alberne Humor. Ich werde hier nur noch Sachen notieren, die sich auch wirklich ereignet haben, nur noch Ernst. Keine Übertreibungen mehr, keine Verdrehungen, keine Denunzierungen, keine Ridikülisierungen, keine Fantastereien und irgendwie geartete Hirngespinste mehr. Alles wird real sein. So real wie das Leben, das ja bekanntlich die besten Geschichten schreibt, wie jeder Leser weiß, der sich schon mal falsch wiedergegeben fühlte.
Mir wird das umso leichter fallen, als ich nicht mehr auf die Gefühle meiner Freundin Rücksicht werde nehmen müssen, die mittlerweile nur noch meine Ex ist. Aufklärung und Emanzipation hin oder her, am Ende stehen einem die Mädchen doch immer im Weg, wenn einem eine Sache mal wirklich wichtig ist. Bestenfalls sind sie Ballast. Revolutionen gewinnt man mit ihnen nicht. Da mögen sie sich noch so tolerant gerieren. Schließlich lief es bei mir doch wieder auf die Frage hinaus: „Ich oder Frankreich? Du musst dich entscheiden, Stephan!“ Da habe ich mich natürlich für Frankreich entschieden, schon allein deshalb, weil mich das Land im Gegensatz zu Melanie nicht vor eine so absolute und unfaire Entscheidungsalternative gestellt hat. In ihrem aus Selbstgerechtigkeit errichteten Elfenbeinturm hat sie nicht mal versucht, für meine Lage Verständnis aufzubringen. Dabei hatte ich mit Thomas Mann und Bert Brecht nun wahrlich überzeugende Argumente auf meiner Seite. Man stelle sich nur mal vor, die hätten sich von ihren Frauen verbieten lassen, ins Exil zu gehen. Was dann wohl mit ihnen in Deutschland passiert wäre? Das mag man sich gar nicht ausmalen.

Damit auch meine französischen Freunde in diesen sieben Monaten an meinem Schicksal Anteil nehmen können, werde ich jedes Kapitel meines Tagebuchs textgetreu in ihre Sprache übersetzen:

Version française

Préface: 20 septembre – 26 septembre

À Pau, j’ai déposé une bombe. J’ai fait un tabac. Énorme ! Ça a déchiré tout ! Surtout mon journal intime.