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Zeisig
Zur Person: Stephan Zeisig, geb. 1978, Intimkenner Frankreichs,  und ausgewiesener Pädagogik-Experte, schreibt während seines Aufenthalts in Lille  für ENTHUSIASTEN ONLINE seine Kolumne

L'auberge française

20.-26.9.05
Vorwort
, in dem Stephan die wahren Gründe für seine Emigration offenbart

27.9.-3.10.05
1. Kapitel
, in dem Stephan bei der Wohnungs-Suche einige gravierende Fehler begeht.

4.10.-10.10.05
2. Kapitel
, in dem Stephan die Fehler der vorherigen Woche auszumerzen versucht und dabei auf interessante Ausländerinnen trifft.

11.10.-17.10.05
3. Kapitel
, in dem Stephan die Deutschen- Freundlichkeit der Franzmänner lobt.

18.10.-31.10.05
4. Kapitel
, in dem Stephan sich vergeblich bemüht, seine Berührungsängste vor Gothik-Musik und netten Frauen zu überwinden.

Fünftes Kapitel: 1. November – 7. November

Auch diesmal stelle ich mein Tagebuch wieder mit einiger Verspätung ins Netz. Auch diesmal gibt es wieder triftige Gründe persönlicher Natur. Ich habe gelogen. Seit meiner Ankunft habe ich nichts als die Unwahrheit geschrieben. Wer meine letzten Wochen verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, oder besser: er musste den Eindruck gewinnen, für mich sei der Aufenthalt hier in Lille eine einzige Erfolgsstory, als sei mein Weg gepflastert von schönen Frauen, überschwänglichem Zuspruch in der Schule, tiefen und aufrichtigen Freundschaften, blendender Gesundheit, politischer Anerkennung und anregenden kulturellen Ereignissen. Doch von all diesen Insignien puren Glücks bin ich meilenweit entfernt. Nichts von dem trifft zu. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben so viele Rückschläge, so viel Zurückweisung, so viele Misserfolge erlebt, so reine Einsamkeit durchlebt zu haben.

Das ging umso stärker an meine Substanz, da ich es aus Pau gewohnt war, dass man mir nur Zuneigung entgegenbrachte. Mehr noch, ich beschönige sicherlich nichts, wenn ich behaupte, dass es Gott in meinem ganzen bisherigen Leben durchweg gut mit mir meinte. Ich hatte sogar schon des Öfteren ein schlechtes Gewissen, weil mir alles in den Schoß fiel. Wieso bekam ich immer alles, nach dem ich begehrte, wieso spannte immer ich anderen die Freundin aus, wieso hatte ich das beste Abitur meiner Schule seit Jahren, obgleich ich dafür keinen Finger krumm gemacht hatte, wieso erfreute ich mich durchweg blendender Gesundheit, obwohl mein ausschweifender Lebensstil eigentlich Raubbau an meinem Körper war? Wieso reüssierte ich auf ganzer Linie, in allen Bereichen, ohne auch nur einmal an meine Grenzen gehen zu müssen, und war dabei dennoch so eine bescheidene, interessante und ambivalente Persönlichkeit?

Manchmal wurde mir mein nicht enden wollender Triumphzug selbst unheimlich und ich wünschte mir, wenigstens einmal am bitteren Odeur des Scheiterns zu schnuppern, einmal vom fauligen Apfel der Niederlage zu kosten, einmal wenigstens nur eine Drei in der in der Schule zu bekommen, einmal in der deprimierenden Lage zu sein, dass man von einem Mädchen zurückgewiesen wird. Doch selbst dieses Begehren wurde mir von Gott erfüllt. Doch keine Glückssträhne währt ewig. Selbst für mich nicht. Ich hätte es wissen müssen. Dann wäre ich besser auf diese Situation vorbereitet gewesen. Irgendwann kommt die Retourkutsche, irgendwann ist Zahltag. Und mein Zahltag begann am 20. September.

Eigentlich schon kurz davor. Es stimmte gar nicht, dass ich mit Melanie Schluss gemacht habe. Sie hat mich verlassen, für einen 44jährigen Chefarzt aus der Charité, einen Kokser, wie übrigens die meisten Ärzte Kokser sind, das ist nur nicht bekannt. Würde ich wissen, wie er hieße, ich würde seinen Namen hier nennen. Um ein bisschen Abstand zu haben, um nicht ständig mit Orten und Personen konfrontiert zu sein, die mir Melanie in Erinnerung riefen, entschied ich mich spontan, mein Referendariat, für das ich bereits einen Platz am Rückert-Gymnasium in Schöneberg hatte, doch nicht anzutreten und für eine Weile nach Frankreich zu gehen. 

Mein im zweiten Kapitel beschriebener Auszug aus der MAJT war ebenfalls weniger ruhmreich, als ich es dort dargestellt habe. Nicht wegen zu vieler Freunde bin ich gegangen. Ich musste gehen, weil ich gegen die, zugegeben, doch ziemlich strenge Hausordnung des Wohnheims verstoßen hatte. Ich war vom Nachtwächter nach 21 Uhr mit Herrenbesuch auf meinem Zimmer erwischt worden. Zu dieser Zeit durfte man aber niemandem mehr auf seinem Zimmer empfangen. Ist mir eigentlich ziemlich unangenehm, dies zu erzählen. Mir wäre es auch lieber gewesen, man hätte mich wenigstens wegen einer Schickse rausgeschmissen. Dabei hatte ich mit Karim nicht mal wirklich richtigen Sex gehabt, nur gekuschelt. Unter normalen Umständen hätte ich mich gar nicht auf ihn eingelassen. Aber in diesem Moment war ich dankbar über jedes bisschen an menschlicher Wärme, die ich empfangen durfte.

Noch heute gehe ich, wenn ich mich besonders einsam fühle, in das restaurant universitaire der Catho. Um zwölf ist dort die Hölle los. In der Schlange wird von vorne und hinten gedrängelt. Einmal standen hinter mir zwei Senegalesinnen, von denen die eine, während sie ins Gespräch mit der anderen vertieft war, mir ständig unbewusst mit ihrem Ellenbogen in die Hüfte gestoßen hat. Ich habe diesen kostbaren und seltenen Moment menschlicher Wärme sehr genossen.

Menschlich wird es demnächst mit ziemlicher Sicherheit auch nicht besser. Ich muss nämlich zum Ende des Monats aus der WG, der letzten Bastion sozialer Kontaktmöglichkeiten für mich. Meine Mitbewohner haben unglücklicherweise das vierte Kapitel meines Tagebuchs gelesen, in denen ich sie ihrer Meinung nach etwas zu kritisch gezeichnet habe, und darauf entschieden, dass ich zu gehen haben. Die Malheurs geben sich wirklich die Klinke in die Hand. Vor den Ferien konnte ich mir schon mein Entlassungsschreiben vom Lycée Fénelon abholen. Ich hatte dem Direktor nicht in die Augen geschaut, als ich in dessen Beisein mit seiner Stellvertreterin über ein Problem mit meinem Stundenplan sprach. In Frankreich wird sehr viel Wert auf die Respektierung von Hierarchien gelegt. Ich war schon ziemlich geschockt. Sicherlich, mit den meisten Schülern kam ich überhaupt nicht klar und sie tanzten mir in meinen Stunden praktisch auf der Nase herum, statt die Aufgaben zu machen, die ich ihnen aufgetragen hatte. Aber immerhin gab es ein oder zwei, die mich mochten. Vielleicht hätte man mal etwas zusammen trinken gehen können.

Ich hoffe nur, bald irgendeine Unterkunft zu finden, eine, die so gut geheizt ist wie die WG. Denn ich habe keine Lust, irgendwo pennen zu müssen. Und ich kann es mir bei meiner anfälligen Gesundheit auch nicht leisten, mich der zunehmend einsetzenden Kälte auszusetzen. Beim examen médical war der Arzt sehr beunruhigt über den Schleim, den ich immer aushuste. Er hat mich sofort an einen Spezialisten überwiesen. Bin aber nicht hingegangen, weil ich mich damit nicht auch noch belasten wollte. Ich leide schon genug unter meinem hier plötzlich auftretenden Haarausfall. Bis zur Glatze ist es nicht mehr weit. Dabei deutete bis vor kurzem nichts darauf hin. Im Gegenteil, mein Haar war voller als das meiner Freundin Melanie. Ich hatte sogar mehrmals Angebote als Model. Und nun muss ich mich wohl damit abfinden, bald nur noch der Spott meiner Mitmenschen zu sein. Ich, der ich immer als Verkörperung des Schönlings galt, wenn auch nicht als ein geleckter, bald nur noch das Gegenteil. Wenn ich heute so im Spiegel mein zunehmend kahleres Antlitz betrachte, muss ich sagen, dass für mich die Haare offensichtlich sehr wichtig waren. Sie haben alles Unvorteilhafte kaschiert. Mit diesem Schicksalsschlag im Gepäck wäre für mich die Nachricht, dass ich auch unter einer unheilbaren Lungenkrankheit leide, nicht mehr zu verkraften. Darum habe ich mich entschieden, diesem Schleim beim Husten nicht weiter nachzugehen.

Vielmehr bitte ich meine Leser aufrichtig dafür um Entschuldigung, sie so lange belogen zu haben. Ich bitte sie um Verständnis dafür, dass es mir so schwer fiel, bzw. lange Zeit unmöglich war, mich den Tatsachen zu stellen, meinem eigenen Niedergang. Vielleicht stimmt es sie nachsichtiger, wenn sie sich klarmachen, dass ich mich in erster Linie selbst betrogen habe. Wäre ich vorher nicht King gewesen, dann wäre mein Blick nicht so vernebelt, dann hätte ich mir das Ende dieses Traums, der mein Leben war, schneller eingestanden.

Fortan werde ich auch nicht mehr über mich schreiben. So ein hässliches und uninteressantes Individuum, wie ich es mittlerweile geworden bin, verdient es einfach nicht, im Mittelpunkt zu stehen und sei es auch nur der Mittelpunkt eines überflüssigen Blogs im Internet. Zukünftig beschränke ich mich ganz auf meine Rolle als Beobachter und werde nur noch über interessante Menschen schreiben, mit denen man sich identifizieren kann, weil sie was drauf haben, was erleben oder wenigstens gut aussehen. Lasst Euch nicht verwirren, wenn die Beiträge dennoch in der Ich-Form verfasst werden sollten. Das bin nicht ich. Das bin doch nicht nur ich. Kennt ihr das auch?



Version française

Cinquième chapitre: 1er novembre – 7 octobre


La semaine dernière, je n’ai pratiquement rien fait. Mais, je n’ai rien à me reprocher. Effectivement, j’avais même prévu d’aller voir deux concerts, d’abord au festival les Inrocks où il y avait Kaiser Chiefs, Hard Fi, The Futureheads et Maximo Park et ensuite au concert de Luke et Déportivo. Que je n’y sois finalement pas allé n’est pas de ma faute mais celle des émeutiers. Pour être clair, je n’ai rien contre la violence. Si elle est justifiée et atteint ses buts, tant mieux. Surtout quand elle touche des voitures, je suis tout à fait d’accord, comme je n’ai pas de bagnole moi-même. J’aurais même envie de m’y mêler. Malheureusement, je dois toujours préparer mes cours du Lycée. Alors, j’en ai pas le temps. 
En revanche, je ne peux pas soutenir des sévices de pure caractère criminel tels que ceux que l’on a vécu ces derniers jours partout en France. Ces actes ne témoignent pas de la moindre visée politique. Ce sont des gosses qui n’ont à peine 14 ans et qui n’ont aucune conscience critique. Ce que je ne supporte pas non plus, c’est lorsque les braves gens en subissent les conséquences. Moi, j’en fait partie. Je vais chaque jour au travail, je ne fais de mal à personne, je ne frappe pas ma copine, je ne vote pas pour les extrèmes et un jour, je payerai peut-être aussi des impôts. Certes, je serais contribuable en Allemagne. Mais à travers le budget de l’Union Européenne, la France et les émeutiers en profiterons aussi. Donc, cette racaille aurait toute raisons de faire en sorte que je ne subisse pas les effets pénibles de leur comportement. Mais apparemment, ils s’en foutent.
C’est pourquoi il y a maintenant, depuis quelques jours, un couvre feu à Lille, dont je suis la première victime. Ce couvre feu s’applique à partir de 20 heures et concerne des jeunes jusqu’à l’âge de 18 ans et des Allemands jusqu’a l’âge de 28. Des Allemands, comme des assistants pour l’allemand, employés à d’autres écoles sur Lille, ont été impliqués dans les violences nocturnes. Un parmi eux avait même 28 ans et dirigeait un groupe d’adolescants, peut-être même ses propres élèves. Ce couvre feu m’êmpêche de sortir et aller à mes concert. Je pourraît y aller quand même en espèrant passer pour un Français. Mais pendant la nuit, j’ai tellement peur d’être violé par quelqu’un derrière un arbre que je cours toujours quand je suis dans la rue. Alors, en sortant je risquerais de passer pour un émeutier et d’être abattu par la police. Donc, j’ai préféré rester à la maison.