20.-26.9.05
Vorwort, in dem Stephan die wahren Gründe für seine
Emigration offenbart
27.9.-3.10.05
1. Kapitel, in dem Stephan bei der Wohnungs-Suche einige
gravierende Fehler begeht.
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Zweites
Kapitel: 4. Oktober – 10. Oktober:
In den letzten
beiden Wochen habe ich in meine Ausführungen ein paar Fehler
eingebaut, auf morphologischer, lexikalischer, grammatischer und
syntaktischer Ebene. Da ich bis heute keine Mail mit Korrekturvorschlägen
von meinen wissbegierigen Lesern erhalten habe, nehme ich an, dass ich
entweder keine haben oder dass sie jeden Scheiß schlucken, den ich
ihnen auftische. Für mich macht das keinen Unterschied. Mir ist es
egal. Ich ziehe meine Tour durch. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch
über den Rhein zum neuen politischen Führungspersonal. Weiter möchte
ich darauf jedoch nicht eingehen. Für mich hier in Frankreich ist
Deutschland so weit weg wie der Kalte Krieg. Hierzu möchte ich ein
altfranzösisches Sprichwort anführen, welches den Nagel meiner
Meinung nach auf den Kopf trifft: La Chine s’en fout si en
Barbade quelqu’un attrape un coup de soleil. Gibt es eine andere
Sprache, die so viel Wahrheit in so leichte Poesie packen kann?
Vermutlich ja. Allerdings beherrsche ich diese nicht.
In
Frankreich spielt Deutschland praktisch keine Rolle. Hier hat man zum
Glück genug mit sich zu tun, so dass man sich mit anderen nicht beschäftigen
muss. Das passt zu mir. Ich habe am liebsten auch mit mir zu tun.
Darum bin ich ja auch ins Ausland gegangen, um mit allem zu brechen,
was mich in Deutschland in meiner Selbstentfaltung behindert und in
meiner Freiheit eingeschränkt hat. Hier in Frankreich versprach ich
mir die Muße, um in mich zu gehen, einzukehren usw., wo am Ende dann
ein neuer Mensch bei entsteht. Allerdings bin ich bisher noch nicht
dazu gekommen. Zu viel habe ich in den wenigen Wochen seit meiner
Ankunft erlebt. Hier in Frankreich ist einfach immer was los, man
kommt gar nicht dazu, mal innezuhalten, mal Luft zu holen. Dennoch
habe ich die Zeit in Lille bisher jede Sekunde genossen und habe,
selbst wenn es sich vielleicht beschönigend und verklärend anhört,
durchweg positive Erfahrungen gemacht. Schon nach elf Tagen in der MAJT
habe ich die ersten Freundschaften geknüpft, die, ich lehne mich
hier nicht zu weit aus dem Fenster, ohne Zweifel von Dauer sein
werden. Er heißt Ahmed und arbeitet in der MAJT am Empfang.
Dieses schnelle Eindringen in die Lilloiser Société hat mich
dazu veranlasst, die MAJT zu verlassen und mir eine WG zu
suchen. Da ich sehr flexibel war, rechnete ich auch nicht mit
Schwierigkeiten, schnell eine zu finden. Als Bedingungen formulierte
ich lediglich, dass ich mit mindestens vier verschiedenen Nationalitäten
zusammenwohnen, dass ich nicht mehr als 150 Euro pro Monat bezahlen
wollte, dass die Wohnung im Zentrum liegen musste und dass die
Studentinnen gut aussahen.
Schon
nach zwei Tagen wurde ich fündig, ohne wirklich Abstriche machen zu müssen.
Jetzt bin ich in einer Dachgeschosswohnung in bester Lage. Meine
Mansarde geht zum Hof raus, so dass ich nicht durch die Studenten gestört
werde, die in der Rue de Béthune im abendlichen, spätsommerlichen
Sonnenschein die Stühle vor den zahlreichen Cafés bevölkern. Meine
Lieblingskinos, das Majestic und das Métropole, sind
gleich gegenüber und bis zur Comicbuchhandlung BD Fugue Café
ist es auch nur ein Katzensprung. Wenn ich wie jeden Tag um elf mit
meinem Unterricht beginne, reicht es, fünf Minuten vorher das Haus zu
verlassen (oder loszumachen). Selbst bis zu den Konzerten, von denen
hier demnächst zahlreiche Hochkaräter stattfinden (Radiohead,
Placebo, Jeff Buckley, Eminem, Nirvana, Tocotonic), ist es nicht so
weit, als dass man auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen wäre.
Am meisten freue ich mich jedoch über meine Mitbewohner: Nathalie aus
Frankreich, Jenny aus England, Maria aus Spanien, Luisa aus Italien
und Natascha aus Russland. Ich bin ja sehr sparsam mit Komplimenten,
aber hier muss ich eins verteilen: sie sehen alle toll aus, obwohl ich
natürlich auf das Aussehen nicht geachtet habe, wegen Melanie.
Sie
haben alle schon mal einen Schönheitswettbewerb in dem Ort gewonnen,
in dem sie aufgewachsen sind. Was für mich aber letztlich den
Ausschlag gegeben hat, warum ich mich für sie entschieden habe und
nicht für die Männer-WG, die ich ebenfalls besichtigt habe, sind
ihre angenehme Art, ihr interessanter Charakter und ihre
unterschiedlichen Kulturen, die sie in unsere Communité
einbringen. Ich habe bereits gelernt, dass man in England
Schuluniformen trägt, dass in Russland viel gesoffen wird, in
Frankreich auch, wenn auch nicht Wodka, sondern Wein, dass in Spanien
die Männer alle Machos sind und dass die italienischen Männern nur
den blonden deutschen Touristinnen hinterhergaffen. Ich denke, mit
diesem neu gewonnenen Wissen über Europa, seine verschiedenen Welten
und Lebensweisen werde ich meine Kinder später hoffentlich mal zu
mehr Toleranz erziehen, als es meine Eltern bei ihren eigenen
Nachkommen getan haben.
Interessant
sind auch die Biographien meiner fünf Mitbewohnerinnen. Jenny hat
schon zu Gymnasialzeiten eine landesweite Schülerzeitung geleitet und
war gleichzeitig Vorsitzende einer Assoziation, die sich um die Rechte
genitalverstümmelter Frauen in Afrika kümmert. Sie will im Leben
nicht viel Geld, sondern vor allem helfen. Ich finde es total
bewundernswert, wie altruistisch sie ist. Maria hat schon als Teenager
mehrere Romane veröffentlicht, ohne auf ihren Vater zurückzugreifen,
der in herausgehobener Stelle im italienischen Kultusministerium
arbeitet. Trotzdem sieht sie sich regelmäßig Unterstellungen
ausgesetzt, sie hätte als 14jährige ihren gut dotierten Buchvertrag
nur wegen ihm bekommen. Ihre Erfahrungen mit diesem Neid und der ständigen
Missgunst hat sie in ihrem letzten Werk, Geständnisse einer jungen
Frau, veröffentlicht. Ihre Entschlossenheit, sich von niederträchtigen
Kritikern nicht unterkriegen zu lassen, verdient Respekt. Luisa spielt
seit vielen Jahren Straßentheater, obwohl sie weiß, dass sie damit
nie die Anerkennung erhalten wird, die man richtigen Schauspielern
entgegenbringt. Einmal ist sie sogar umsonst vor Waisenkindern
aufgetreten. Dieser Bericht hat mich tief gerührt. Nathalie war
letztes Jahr in Norwegen im Urlaub. Wenn man bedenkt, dass alle
Franzosen immer nur ans Mittelmeer fahren, kann man vor dieser
Entscheidung, gegen den Strom zu schwimmen, nur den Hut ziehen.
Natascha ist lesbisch, allerdings mit einem Schuss Bisexualität, wie
sie mir versicherte. Damit ist sie in Russland praktisch eine
politische Verfolgte.
Ich
finde es toll, wie hier Menschen aus den entlegensten Winkeln der Welt
zusammengefunden haben und auf den anderen eingehen. Und ich
profitiere in sprachlicher Hinsicht natürlich mehr als doppelt, da
ich nicht nur mein Französisch verbessern kann, sondern dank Jenny
sogar schon ein paar Brocken Englisch gelernt habe. Die Gespräche mit
allen sind intellektuell sehr inspirierend, da die fünf trotz ihrer
noch nicht mal zwanzig Jahre sehr gebildet und reif sind. So schätzen
sie ihren Aufenthalt und die daraus möglicherweise erwachsenden
Probleme mit einem verblüffenden Realismus ein. Keine verschließt
die Augen davor, dass die Beziehungen zu ihren Freunden, die daheim
geblieben sind, in dieser Zeit auf eine harte Probe gestellt werden.
Maria war letzten Donnerstag sehr geknickt und vertraute mir in diesem
Moment emotionaler Bedürftigkeit in bewundernswerter Offenheit an,
dass sie vor allem vor den Telefonaten mit Miguel Angst hat. Schließlich
lebten sie jetzt für ein knappes Jahr in verschiedenen Welten und
somit sei es nur normal, dass ihre Stimmungen nicht immer
korrespondierten, weshalb jedes Telefonat die Gefahr berge, dass sich
ein Streit entzünde, weil der Partner, der sich gerade schlechter fühle,
dem anderen dessen gute Laune vorwerfe und als Zeugnis seiner
nachlassende Liebe auslege. Weil Maria so traurig war, habe ich sie da
ohne Hintergedanken in den Arm genommen und ihr versichert, wie sehr
ich mich in sie hineinversetzen könne. Auch meine Freundin Sandra hätte
sich, als ich damals in Pau war, am Telefon immer total selbstgerecht
verhalten und mir das Leben dort zur Hölle gemacht.
Mit
eher gemischten Gefühlen sehen meine Colocatrices auch den
ersten Besuchen ihrer Freunde entgegen. Schließlich befinden sie sich
ihnen gegenüber dann in einer für sie ungewohnten Machtposition, da
nur sie Französisch beherrschen, sich in Lille auskennen und der
Freund im Grunde auf sie angewiesen ist und daher vermutlich
Erwartungen an sie stellt, die nur schwer zu erfüllen sind, zumal man
dennoch weiterhin seinen alltäglichen Verpflichtungen nachzukommen
hat, die für Erasmusstudenten ja bekanntlich nicht gerade wenige
sind. Nur Natascha werden diese schwierigen Begegnungen erspart
bleiben, da ihre Freundin Olga zum Glück kein Einreisevisum erhält.
Insgeheim weiß jede von ihnen, dass die Wahrscheinlichkeit, am Ende
des Erasmusjahrs noch mit ihrem Freund bzw. ihrer Freundin zusammen zu
sein, verschwindend gering ist. Man trifft ja ständig Menschen, die
viel exotischer und interessanter sind und besser aussehen als der,
den man zu Hause zurückgelassen hat. Keine würde beispielsweise die
Hand dafür ins Feuer legen, dass sich mit mir in den nächsten
Monaten nicht was anbahnt. Zu sehr prickelt es bereits zwischen uns
allen. So schnell kann das manchmal gehen.
Version
française
Deuxième
chapitre: 4 octobre – 10 octobre
Dans
mon auberge française, tout va bien pour le moment, pour moi.
Malheureusement, la copine à ma colocatrice lesbienne Natacha
n’obtient pas de visa pour entrer en France. Cela me rends presque
aussi dingue que Natacha elle-même. Nous deux, nous craignons que
Olga rencontre une autre fille ou bien que Natacha découvre qu’elle
aime aussi les mecs. Cela pourrait vraiment compliquer les choses.
Pour cette raison, j’ai décidé d’adhérer à une association
luttant pour les droits de l’homme (et de femme bien sûr aussi).
Moi, je considère qu`il est nécessaire de poursuivre son engagement
même à l’étranger où que ce soit. D’ailleurs, j’ai rencontré
Jean-Pierre et Luc Dardenne et je leur ai filé quelques de mes écrits
qu’ils vont peut-être porter à l’écran. Ils ont vraiment été
impressionnés par ma personnalité. |