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Zeisig
Zur Person: Stephan Zeisig, geb. 1978, Intimkenner Frankreichs,  und ausgewiesener Pädagogik-Experte, schreibt während seines Aufenthalts in Lille  für ENTHUSIASTEN ONLINE seine Kolumne

L'auberge française

20.-26.9.05
Vorwort
, in dem Stephan die wahren Gründe für seine Emigration offenbart

27.9.-3.10.05
1. Kapitel
, in dem Stephan bei der Wohnungs-Suche einige gravierende Fehler begeht.

Zweites Kapitel: 4. Oktober – 10. Oktober

In den letzten beiden Wochen habe ich in meine Ausführungen ein paar Fehler eingebaut, auf morphologischer, lexikalischer, grammatischer und syntaktischer Ebene. Da ich bis heute keine Mail mit Korrekturvorschlägen von meinen wissbegierigen Lesern erhalten habe, nehme ich an, dass ich entweder keine haben oder dass sie jeden Scheiß schlucken, den ich ihnen auftische. Für mich macht das keinen Unterschied. Mir ist es egal. Ich ziehe meine Tour durch. Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch über den Rhein zum neuen politischen Führungspersonal. Weiter möchte ich darauf jedoch nicht eingehen. Für mich hier in Frankreich ist Deutschland so weit weg wie der Kalte Krieg. Hierzu möchte ich ein altfranzösisches Sprichwort anführen, welches den Nagel meiner Meinung nach auf den Kopf trifft: La Chine s’en fout si en Barbade quelqu’un attrape un coup de soleil. Gibt es eine andere Sprache, die so viel Wahrheit in so leichte Poesie packen kann? Vermutlich ja. Allerdings beherrsche ich diese nicht.

In Frankreich spielt Deutschland praktisch keine Rolle. Hier hat man zum Glück genug mit sich zu tun, so dass man sich mit anderen nicht beschäftigen muss. Das passt zu mir. Ich habe am liebsten auch mit mir zu tun. Darum bin ich ja auch ins Ausland gegangen, um mit allem zu brechen, was mich in Deutschland in meiner Selbstentfaltung behindert und in meiner Freiheit eingeschränkt hat. Hier in Frankreich versprach ich mir die Muße, um in mich zu gehen, einzukehren usw., wo am Ende dann ein neuer Mensch bei entsteht. Allerdings bin ich bisher noch nicht dazu gekommen. Zu viel habe ich in den wenigen Wochen seit meiner Ankunft erlebt. Hier in Frankreich ist einfach immer was los, man kommt gar nicht dazu, mal innezuhalten, mal Luft zu holen. Dennoch habe ich die Zeit in Lille bisher jede Sekunde genossen und habe, selbst wenn es sich vielleicht beschönigend und verklärend anhört, durchweg positive Erfahrungen gemacht. Schon nach elf Tagen in der MAJT habe ich die ersten Freundschaften geknüpft, die, ich lehne mich hier nicht zu weit aus dem Fenster, ohne Zweifel von Dauer sein werden. Er heißt Ahmed und arbeitet in der MAJT am Empfang. Dieses schnelle Eindringen in die Lilloiser Société hat mich dazu veranlasst, die MAJT zu verlassen und mir eine WG zu suchen. Da ich sehr flexibel war, rechnete ich auch nicht mit Schwierigkeiten, schnell eine zu finden. Als Bedingungen formulierte ich lediglich, dass ich mit mindestens vier verschiedenen Nationalitäten zusammenwohnen, dass ich nicht mehr als 150 Euro pro Monat bezahlen wollte, dass die Wohnung im Zentrum liegen musste und dass die Studentinnen gut aussahen.

Schon nach zwei Tagen wurde ich fündig, ohne wirklich Abstriche machen zu müssen. Jetzt bin ich in einer Dachgeschosswohnung in bester Lage. Meine Mansarde geht zum Hof raus, so dass ich nicht durch die Studenten gestört werde, die in der Rue de Béthune im abendlichen, spätsommerlichen Sonnenschein die Stühle vor den zahlreichen Cafés bevölkern. Meine Lieblingskinos, das Majestic und das Métropole, sind gleich gegenüber und bis zur Comicbuchhandlung BD Fugue Café ist es auch nur ein Katzensprung. Wenn ich wie jeden Tag um elf mit meinem Unterricht beginne, reicht es, fünf Minuten vorher das Haus zu verlassen (oder loszumachen). Selbst bis zu den Konzerten, von denen hier demnächst zahlreiche Hochkaräter stattfinden (Radiohead, Placebo, Jeff Buckley, Eminem, Nirvana, Tocotonic), ist es nicht so weit, als dass man auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen wäre. Am meisten freue ich mich jedoch über meine Mitbewohner: Nathalie aus Frankreich, Jenny aus England, Maria aus Spanien, Luisa aus Italien und Natascha aus Russland. Ich bin ja sehr sparsam mit Komplimenten, aber hier muss ich eins verteilen: sie sehen alle toll aus, obwohl ich natürlich auf das Aussehen nicht geachtet habe, wegen Melanie.

Sie haben alle schon mal einen Schönheitswettbewerb in dem Ort gewonnen, in dem sie aufgewachsen sind. Was für mich aber letztlich den Ausschlag gegeben hat, warum ich mich für sie entschieden habe und nicht für die Männer-WG, die ich ebenfalls besichtigt habe, sind ihre angenehme Art, ihr interessanter Charakter und ihre unterschiedlichen Kulturen, die sie in unsere Communité einbringen. Ich habe bereits gelernt, dass man in England Schuluniformen trägt, dass in Russland viel gesoffen wird, in Frankreich auch, wenn auch nicht Wodka, sondern Wein, dass in Spanien die Männer alle Machos sind und dass die italienischen Männern nur den blonden deutschen Touristinnen hinterhergaffen. Ich denke, mit diesem neu gewonnenen Wissen über Europa, seine verschiedenen Welten und Lebensweisen werde ich meine Kinder später hoffentlich mal zu mehr Toleranz erziehen, als es meine Eltern bei ihren eigenen Nachkommen getan haben.

Interessant sind auch die Biographien meiner fünf Mitbewohnerinnen. Jenny hat schon zu Gymnasialzeiten eine landesweite Schülerzeitung geleitet und war gleichzeitig Vorsitzende einer Assoziation, die sich um die Rechte genitalverstümmelter Frauen in Afrika kümmert. Sie will im Leben nicht viel Geld, sondern vor allem helfen. Ich finde es total bewundernswert, wie altruistisch sie ist. Maria hat schon als Teenager mehrere Romane veröffentlicht, ohne auf ihren Vater zurückzugreifen, der in herausgehobener Stelle im italienischen Kultusministerium arbeitet. Trotzdem sieht sie sich regelmäßig Unterstellungen ausgesetzt, sie hätte als 14jährige ihren gut dotierten Buchvertrag nur wegen ihm bekommen. Ihre Erfahrungen mit diesem Neid und der ständigen Missgunst hat sie in ihrem letzten Werk, Geständnisse einer jungen Frau, veröffentlicht. Ihre Entschlossenheit, sich von niederträchtigen Kritikern nicht unterkriegen zu lassen, verdient Respekt. Luisa spielt seit vielen Jahren Straßentheater, obwohl sie weiß, dass sie damit nie die Anerkennung erhalten wird, die man richtigen Schauspielern entgegenbringt. Einmal ist sie sogar umsonst vor Waisenkindern aufgetreten. Dieser Bericht hat mich tief gerührt. Nathalie war letztes Jahr in Norwegen im Urlaub. Wenn man bedenkt, dass alle Franzosen immer nur ans Mittelmeer fahren, kann man vor dieser Entscheidung, gegen den Strom zu schwimmen, nur den Hut ziehen. Natascha ist lesbisch, allerdings mit einem Schuss Bisexualität, wie sie mir versicherte. Damit ist sie in Russland praktisch eine politische Verfolgte.

Ich finde es toll, wie hier Menschen aus den entlegensten Winkeln der Welt zusammengefunden haben und auf den anderen eingehen. Und ich profitiere in sprachlicher Hinsicht natürlich mehr als doppelt, da ich nicht nur mein Französisch verbessern kann, sondern dank Jenny sogar schon ein paar Brocken Englisch gelernt habe. Die Gespräche mit allen sind intellektuell sehr inspirierend, da die fünf trotz ihrer noch nicht mal zwanzig Jahre sehr gebildet und reif sind. So schätzen sie ihren Aufenthalt und die daraus möglicherweise erwachsenden Probleme mit einem verblüffenden Realismus ein. Keine verschließt die Augen davor, dass die Beziehungen zu ihren Freunden, die daheim geblieben sind, in dieser Zeit auf eine harte Probe gestellt werden. Maria war letzten Donnerstag sehr geknickt und vertraute mir in diesem Moment emotionaler Bedürftigkeit in bewundernswerter Offenheit an, dass sie vor allem vor den Telefonaten mit Miguel Angst hat. Schließlich lebten sie jetzt für ein knappes Jahr in verschiedenen Welten und somit sei es nur normal, dass ihre Stimmungen nicht immer korrespondierten, weshalb jedes Telefonat die Gefahr berge, dass sich ein Streit entzünde, weil der Partner, der sich gerade schlechter fühle, dem anderen dessen gute Laune vorwerfe und als Zeugnis seiner nachlassende Liebe auslege. Weil Maria so traurig war, habe ich sie da ohne Hintergedanken in den Arm genommen und ihr versichert, wie sehr ich mich in sie hineinversetzen könne. Auch meine Freundin Sandra hätte sich, als ich damals in Pau war, am Telefon immer total selbstgerecht verhalten und mir das Leben dort zur Hölle gemacht.

Mit eher gemischten Gefühlen sehen meine Colocatrices auch den ersten Besuchen ihrer Freunde entgegen. Schließlich befinden sie sich ihnen gegenüber dann in einer für sie ungewohnten Machtposition, da nur sie Französisch beherrschen, sich in Lille auskennen und der Freund im Grunde auf sie angewiesen ist und daher vermutlich Erwartungen an sie stellt, die nur schwer zu erfüllen sind, zumal man dennoch weiterhin seinen alltäglichen Verpflichtungen nachzukommen hat, die für Erasmusstudenten ja bekanntlich nicht gerade wenige sind. Nur Natascha werden diese schwierigen Begegnungen erspart bleiben, da ihre Freundin Olga zum Glück kein Einreisevisum erhält. Insgeheim weiß jede von ihnen, dass die Wahrscheinlichkeit, am Ende des Erasmusjahrs noch mit ihrem Freund bzw. ihrer Freundin zusammen zu sein, verschwindend gering ist. Man trifft ja ständig Menschen, die viel exotischer und interessanter sind und besser aussehen als der, den man zu Hause zurückgelassen hat. Keine würde beispielsweise die Hand dafür ins Feuer legen, dass sich mit mir in den nächsten Monaten nicht was anbahnt. Zu sehr prickelt es bereits zwischen uns allen. So schnell kann das manchmal gehen.

Version française

Deuxième chapitre: 4 octobre – 10 octobre

Dans mon auberge française, tout va bien pour le moment, pour moi. Malheureusement, la copine à ma colocatrice lesbienne Natacha n’obtient pas de visa pour entrer en France. Cela me rends presque aussi dingue que Natacha elle-même. Nous deux, nous craignons que Olga rencontre une autre fille ou bien que Natacha découvre qu’elle aime aussi les mecs. Cela pourrait vraiment compliquer les choses. Pour cette raison, j’ai décidé d’adhérer à une association luttant pour les droits de l’homme (et de femme bien sûr aussi). Moi, je considère qu`il est nécessaire de poursuivre son engagement même à l’étranger où que ce soit. D’ailleurs, j’ai rencontré Jean-Pierre et Luc Dardenne et je leur ai filé quelques de mes écrits qu’ils vont peut-être porter à l’écran. Ils ont vraiment été impressionnés par ma personnalité.