20.-26.9.05
Vorwort, in dem Stephan die wahren Gründe für seine
Emigration offenbart
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Erstes
Kapitel: 27. September – 3. Oktober 2005:
Wer in Lille eine Wohnung finden will, der versucht es besser erst gar
nicht, es sei denn, er hat ausgesprochen viel Geld zur Verfügung. Bei
mir ist das der Fall. Die donnerstaglichen Auftritte bei der Chaussee
haben mich so reich gemacht, dass ich für mein Lebensende ausgesorgt
habe. Es läuft vielleicht am Ende alles nur noch die Frage hinaus,
auf welchen Tag ich mein Lebensende datiert habe. Hier in der
Hauptstadt Flanderns muss man für ein 15 m² Zimmer durchweg 300 bis
400 Euro hinlegen. Das hört sich zunächst nach Wucher an, ist es
aber auch. Doch sage ich mir immer, man lebt jetzt, nicht später.
Viele vergessen das ständig und sparen und sparen und keiner
konsumiert mehr. So schaufeln sich die geizigen Kunden ihr eigenes
Grab als Arbeitnehmer.
Zwei Gründe muss man wohl anführen, um die hohen Mieten zu erklären.
Zum einen spielt Lille in der Champions-League der Städte. Während
Pau beispielsweise in der dritten Liga rumkrepelt und neidisch auf
Bordeaux schielt, ist die 200.000 Einwohner-Boomtown längst auf
Augenhöhe mit Giganten wie Shanghai, New York, Tokio oder Bombay.
Zumindest in der Eigenwahrnehmung. Das ist schon mal eine gute Basis.
Schließlich läuft neunzig Prozent über Einstellung. Daran mangelt
es ja auch Berlin. Und mit diesem Anspruch einer Weltstadt ist es
selbstverständlich nicht vereinbar, Mieten einer nur normalen Stadt
aufzuweisen. Der zweite Grund für die Lage auf dem lilloiser
Wohnungsmarkt ist die CAF, die Caisse d’Allocation
Familiale. Man drückt auch vor allem deshalb bereitwillig so viel
jeden Monat an seinen Vermieter ab, weil man bis zu fünfzig Prozent
davon vom französischen Staat erstattet bekommt. Man darf dabei
allerdings nicht den Fehler begehen, gegenüber der CAF
anzugeben, dass man sich in den Jahren zuvor bei der Chaussee dumm und
dämlich verdient hat. Denn das Wohngeld berechnet sich auf Grundlage
der Einkünfte aus den letzten zwölf Monaten. Es kann obendrein nicht
schaden, aus einem Land der dritten Welt zu sein, da man so von
vornherein höhere Beträge erhält. Ich hab das mit der DDR versucht.
Weiß aber noch nicht, ob das durchgeht. Man kann es drehen und
wenden, wie man will. Im Grunde ist das Wohngeld nichts anderes als
eine verdeckte Subvention der französischen Vermieter, die, indem sie
ihre Mieter auf diese Quelle verweisen, ohne Skrupel Summen verlangen
können, die den Mietgegenstand in keiner Weise rechtfertigen. So weit
zur allgemeinen Lage auf dem Wohnungsmarkt.
Ich hatte vor Reiseantritt eigentlich bereits eine Unterkunft in der
Tasche. In weiser Voraussicht (eine mir eigene Qualität) hatte ich
mir unter www.colacation.fr
eine WG in bester Zentrumslage gesucht. WGs sind in Frankreich erst
seit einigen Jahren das große Ding. Hier gab es 68 keine Kommune 1.
So hatte ich unter anderem damit geworden, dass ich als Deutscher
schon über deutlich weiterreichende Erfahrungen mit
Wohngemeinschaften verfüge als meine französischen Mitbewerber. Zwar
war ich selber bisher erst einmal in einer Wohngemeinschaft, mit
meinen Eltern und meiner Schwester, bis ich schließlich mit 25 Jahren
ausgezogen bin. Aber so genau muss man das den Franzosen hier ja nicht
auf die Nase binden. Zumal ich mich überdies schon des Öfteren mit
Leuten unterhalten habe, die wirklich schon mal WGs erlebt haben oder
zumindest welche kennen.
Obwohl ich ihnen schon im August die
Kaution überwiesen hatte, hieß es bei meiner Ankunft dann plötzlich:
On est complet! Sie hatten in der Zwischenzeit einen anderen bei sich
einquartiert, einen französischen Studenten. Leider hatte ich den
Kontoauszug mit der betreffenden Überweisung nicht dabei. Ich hätte
ihn mir schicken lassen können und solange ins Hotel gehen.
Allerdings wäre das auch kein guter Start gewesen. Ich wollte mit
Kusshand empfangen werden. Ich war schließlich nicht irgendwer. In
meiner Lage, mit einem großen Rucksack, einer Reisetasche, einem
Laptop und einem kleinen Rucksack, war ich nur eingeschränkt mobil.
Schweren Herzens entschloss ich mich,
ein Taxi zu nehmen und mich an die MAJT zu wenden, die Maison
d’accueil des jeunes travailleurs, einer Art Wohnheim für die,
die im Studentenwohnheim nicht untergekommen waren, entweder weil sie
sich dort zu spät um ein Zimmer beworben hatten oder weil sie keine
Studenten waren. Wenigstens wäre ich zunächst einmal von Leuten
umgeben, die ungefähr mein Alter hatten. Avez-vous plus de 30 ans?
Man wollte mir meine erst 27 nicht glauben, vermutlich schaute ich zu
nachdenklich und reif drein. Ich musste extra meine Geburtsurkunde
vorlegen. Immerhin hatten sie noch etwas frei. Ein 10 m² Zimmer, mit
Dusche und Kühlschrank, für 330 Euro. Merkwürdig war der Preis hier
natürlich schon, da sich die MAJT in erster Linie an Leute
richtete, die gerade von zu Hause auszogen und bei denen nicht
unbedingt davon auszugehen war, dass sie über viel Geld verfügten.
Mir wäre ein Zimmer ohne Dusche und Kühlschrank lieber gewesen.
Immer, wenn ich duschte, hob sich der Duschvorhang wegen irgendeiner
mir nicht einsichtigen Sogwirkung an und machte den Weg frei für das
Wasser, weshalb ich es dann jedes Mal wieder aus meinem Zimmer
aufwischen musste.
Doch das war nicht das Schlimmste.
Ich erinnerte mich noch genau an die Cité Universitaire in Pau,
wo gerade in der ersten Zeit der Gang zur Dusche über den Flur und
zum Kühlschrank in der Etagenküche. Hier in der MAJT ließ
man mir nur noch die Toilettenbesuche. Ich konnte jetzt ja auch nicht
einfach so rausgehen, ohne Grund, und mich ins andere Gebäude in den
Tischtennisraum oder die Cafeteria begeben, mich dort hinsetzen oder
hinstellen oder vielleicht sogar jemanden ansprechen. Das sah ja so
aus, als würde ich soziale Kontakte suchen, als hätte ich es nötig.
Ich spielte mit dem Gedanken, meinen Kühlschrank in die Küche zu
schieben. Dann hätte ich einen Vorwand, um immer mal wieder in dort
vorbeizuschauen.
Allerdings wohnten in meinem Gebäude,
bâtiment 40, zu meiner Verwunderung ausschließlich Leute, die kurz
vor dem Renteneintritt standen, die meisten davon Nordafrikaner. Wozu
dann das ganze Brimborium um mein Alter? Ich hatte nicht das Gefühl,
in einer Maison d’accueil des jeunes travailleurs zu sein,
sondern vielmehr in einer Maison d’accueil des vieux Maghrébins.
Darin sah ich nun auch nicht unbedingt die optimale Zielgruppe für
meinen Wunschfreundeskreis, zumal meine Nachbarn das Wohnheim schon
vor sechs verließen, um auf ihre Baustellen zu fahren. Da hätte ich
ja nachts in der Küche auf sie warten müssen. Alternativ dazu hätte
ich meinen Kühlschrank natürlich über die Straße ins bâtiment 17
schieben können. Da hausten nämlich die ganzen Leute unter 30. Aber
das war mir dann doch ein bisschen zu aufwendig, zu auffällig und zu
riskant. Schließlich konnte der Kühlschrank dabei Schaden nehmen.
Und der gehörte schließlich nicht mir.
Unter dem Strich blieben mir nicht
viele Vorwände, um mich im Wohnheim umzutun. Wäsche waschen und zur
Telefonkabine gehen. Wenn man Glück hatte, traf man dort auf Leute
mit ähnlichen Absichten. Allerdings hatte ich dieses Glück nicht, da
ich augenscheinlich als einziger in der MAJT zu Hause anrief
und meine Wäsche wusch. Um wenigsten mit dem Französisch nicht ganz
aus der Übung zu kommen, öffnete ich hin und wieder mein Fenster,
versteckte mich hinter den Vorhängen und belauschte die Gruppen
Jugendlicher, die vor dem Wohnheim rumstanden und vorbeikommende Mädchen
anbaggerten. Ich musste natürlich vorsichtig sein, dass man mich
nicht bemerkte. Und ich ging in den Instanbul-Express-Imbiss gegenüber,
wo ich eine Merguez bestellte und einen Apfeltee, wobei Betreiber den
Apfeltee jedes Mal vergaßen, weil sie es nicht gewohnt waren, dass
man zwei Sachen auf einmal wollte. Sehr enttäuscht haben sie mich
letzten Mittwoch, als ich sie dabei erwischte, wie sie eine
amerikanische Pizzen aßen, die ihnen ein Pizzaservice brachte. Wie
kann man seinen eigenen Wurzeln so untreu sein? Wahrscheinlich sind es
noch nicht mal wirklich Türken.
Ich ging dennoch weiter zu ihnen, da
es bei ihnen immerhin einen Fernseher gab. Da konnte ich mich
beispielsweise davon überzeugen, dass Jennifer von Star Academy ungefähr
9 Kilo abgenommen hat und mit ihren anorektischen Wangen lange nicht
mehr so gut aussieht wie 2001, als sie die erste Staffel gewann. Die
Franzosen beurteilen das offensichtlich anders, denn im Gegensatz zu
Alexander Klaws steht sie nicht kurz davor, dass ihr der
Plattenvertrag gekündigt wird.
Abgesehen von meinem Zimmer und den Schwierigkeiten, Leute
kennenzulernen, die meinem Format angemessen sind, kann ich mich nicht
beschweren. Das Wohnheim liegt im Quartier Le Moulin. Es gibt hier
einen hohen Einwandereranteil und folglich viele arabische Geschäfte
und Läden aus anderen Regionen. Als Ausländer ist man hier keine
Minderheit und mit den Arabern konnte ich ja schon in Pau sehr gut.
Gleichwohl liegt die MAJT auch noch nicht südlich des
Boulevard de Strassbourg, Lilles "8 Mile", selbst wenn man
bei der Supermarktkette Match auch als Deutscher seinen Rucksack
durchsuchen lassen muss. Man kann hier also durchaus noch nach
Einbruch der Dunkelheit vor die Tür gehen, außer wenn man Mädchen
ist und nicht von irgendwelchen halbstarken Frühpubertierern gefragt
werden möchte, ob man Lust hat zu ficken. Aber ein Mädchen bin ich
ja nicht.
Version française
Premier chapitre: 27 septembre – 3 octobre
Mon séjour est mal barré. Ses sales connards auxquels j’ai versé
une caution forte élevée pour m’installer en colocation avec eux
m’ont tout juste plaqué pour un étudiant français. Par contre, à
Pau, tout était parfait dès le premier jour.
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